Das Modell

„Alles Wichtige bezüglich des Modells läßt sich in zwei Kategorien einteilen, nämlich Verstand und Gefühl. Die Aspekte, die den Verstand betreffen, können leicht in Worte gefaßt werden, die gefühlsmäßige Beschäftigung mit dem Modell ist eine Sache der Sensibilität des Fotografen und seiner Erfahrung. Beginnen wir mit dem einfacheren: den mit dem Verstand faßbaren Aspekten.

Da wäre zunächst die Kleidung des Modells. Das Modell kann alles tragen, was es möchte - mit einer Einschränkung: Kleingemustertes macht sich meist schlecht in der Schwarzweiß-Fotografie. Ansonsten ist es sinnvoll, dem Modell zu empfehlen, einige zusätzliche Kleidungsstücke mitzubringen, um möglichst viele Variationen fotografieren zu können (einmal mit Hose, dann mit Rock, einmal mit Bluse, dann mit T-Shirt und so weiter), wobei es weniger darum gehen sollte, Kleider abzufotografieren, als vielmehr darum, die einer herrschenden Stimmung gemäße Kleidung im Bild zu haben.

Es ist sicher leicht einsehbar, daß Portraits mit romantischem Touch andere Kleidung erfordern kann als Portraits mit betont sachlicher oder im Gegensatz dazu eher erotischer Ausstrahlung. Ich habe bewußt geschrieben: erfordern kann, da es natürlich keine unverrückbaren Gesetze in der Portraitfotografie gibt, nur mehr oder weniger sinnvolle Tips.

Bei der Auswahl der Kleidung lasse ich meinem Modell zunächst freie Hand, erst im Laufe der Portrait-Session beginne ich, Vorschläge zu machen. Es wäre grundfalsch, dem Modell Vorschriften machen zu wollen, denn letztendlich ist es das Modell, mit dem der Erfolg der Anstrengungen steht und fällt. Das Modell muß sich immer frei entscheiden können, und selbst wenn dies bedeutet, den Willen des Fotografen etwas zurückzustellen. Entspannte und natürliche Portraits entstehen nur in einer entsprechenden Situation.

Vielleicht mag es verwunderlich sein, daß die Kleidung überhaupt eine Rolle spielt, da Portraitfotografie oft gleichgesetzt wird mit Head-and-Shoulder-Fotos, d.h. Bildern, auf denen ein Kopf bis zum Halsansatz zu sehen ist. Portraits wie ich sie verstehe, sind jedoch Fotos, die das Antlitz eines Menschen variantenreich darstellen; sowohl in der Form von Großaufnahmen des Kopfes als auch in Form von Bildern, die den ganzen Körper zeigen. Auch Aktaufnahmen können Portraits sein (man denke nur an das Buch Torsi - Torses Nus von Jeanloup Sieff), wenn dies auch nicht die Regel ist.

"Du kannst anziehen, was Du möchtest und ausziehen, was Du Dich traust."

Nach der Kleidung sollten wir den Blick nun auf das Makeup richten. Dabei geht es im Allgemeinen nicht darum, durch mehr oder weniger professionelles Schminken den Gesichtsausdruck des Modells zu verändern, sondern die Möglichkeiten des Makeup zu nutzen, interessante Kontrastwirkungen in das Gesicht zu zaubern, ohne deshalb härteres (d.h. kontrastreiches) Licht verwenden zu müssen.

Das Modell schminkt sich wie gewohnt, nur etwas stärker. Damit erhalten wir im Gesicht die nötigen Kontraste, um das Bild trotz weicher Ausleuchtung mit einer reichen Tonwertskala versehen zu können.

Bei Außenaufnahmen nützt das Makeup ebenfalls, denn Fotografieren im harten Licht der Sonne vermeidet man gerne und weicht stattdessen auf das weiche Licht im Schatten aus. Und so liefert uns wieder das Makeup die notwendigen Kontraste.

Und was ist, wenn unser Modell Makeup nicht mag? Dann können wir es bitten, das Gesicht wenigstens zu pudern (um störende Glanzlichter zu vermeiden) und in kurzen Abständen die Lippen etwas mit der Zunge anzufeuchten (sie wirken dadurch voller). Die Kontraste können wir uns durch etwas kontrastreichere Beleuchtung und/oder durch verlängerte Filmentwicklung ins Bild holen - aber mit Makeup ist das alles besser steuerbar!

Das Wichtigste dieses Abschnitts zum Schluß: Der Umgang mit dem Modell. Damit wären wir beim zweiten am Anfang erwähnten Aspekt, nämlich dem Gefühl. Dieser Aspekt ist schwer zu beschreiben; grundsätzlich geht es darum, daß ich als Fotograf alles tun muß, damit sich das Modell wohl fühlt. Nur wenn das Modell mitmacht, ergibt alles einen Sinn. Nur wenn das Modell gerne vor der Kamera agiert, werden die Bilder die Mühe wert sein.

Ich habe die Erfahrung gemacht, daß im Laufe einer Session etwas Eigenartiges geschieht: die Psychologen nennen es Rapport. Ich meine damit eine zeitweilige gefühlsmäßige Übereinstimmung zwischen Modell und Fotograf, so daß Regieanweisungen beinahe unnötig sind, beide intuitiv das Richtige tun und beide genau wissen, wie die Bilder, die sie machen, aussehen sollen. Dieser Rapport läßt sich nicht erzwingen, es geschieht einfach (oder auch nicht).“

(Von Rainer Frädrich)